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22. März
Puerto Angel
Oaxaca, México
Horst

Archiv Berichte
  Michoacán, Guerrero, México, Morelos und Puebla

In Morelia, der Hauptstadt des Staates Michoacán, 1900 Meter hoch gelegen, mit gut erhaltenem historischem Stadtkern, verbrachten wir 2 Wochen, um die ersten Spanischlektionen zu nehmen. Wir entschieden uns für eine kleine Schule. Zusammen nahmen wir jeden Morgen 3 Stunden Privatlektionen, nach welchen wir ziemlich müde oft erstmal eines unserer bevorzugten Cafés aufsuchten. Natürlich reichen 30 Stunden nicht aus, um sich mit den Leuten zu unterhalten, aber man schlägt sich etwas besser durch. In Guatemala und Equador wollen wir wieder in die Schule gehen und in der Zwischenzeit Sprachübungen machen.
Nach Morelia steuerten wir als nächstes Ziel Oaxaca an, wieder über die Berge, viele Berge. Am frühen Morgen verliessen wir die abgasverpestete Stadt in Richtung Mil Cumbres (tausend Hügel...). Unser Sprachlehrer Ramses sowie der Besitzer des Cafés und Rösterei San José meinten, dass es zwar weit hinauf auf 2800 m ginge, aber wegen der vor wenigen Jahren neu erstellten Toll-Road der Verkehr auf der Bergstrasse ziemlich schwach sei. Nach einer halben Stunde treten in der Rush Hour gelangten wir an den Stadtrand, zugleich der Beginn der Steigung zu den tausend Hügeln. Hundert Meter waren wir gestiegen, als wir auf die Stadt mit ihrem gelben Himmel zurückblickten. Nun hatten wir Gelegenheit, unsere Lungen wieder zu reinigen. Nach zwei kurzen Zwischenabfahrten arbeiteten wir uns langsam und gleichmässig in die grünen Berge mit den kleinen Dörfern hinauf. Was früher die Hauptverbindungsstrasse von México City nach Guadalajara war, entpuppte sich als eine einsame Strecke mit sehr schlechtem Belag. Die herrlichen Ausblicke auf die tausend grünen Hügel und noch nie gesehene Pflanzen und nie gehörte Vogelstimmen entschädigten uns für das Geholpere. Hier und dort wurden wir aus unseren Veloträumen gerissen, als z. B. eine nahe des Strassenrands angebundene Kuh ein paar Fetzen Plastik vom Abfallberg wiederkaute und in einem Ort ein einbeiniger Mann eine Schubkarre bis zur nahen Baustelle vor sich herschob. Das ist Mexiko. Die Kontraste könnten nicht grösser sein. Jeden Tag erleben wir diese Extreme.
Wie der lange Aufstieg, so die Abfahrt, langsam. Licht und Schatten, plötzlich auftauchende Löcher in der Strasse, verlangten von uns nach der Bergfahrt grösste Konzentration. Eigentlich hätten wir noch weiter fahren wollen, das langsame Hinabrollen und die nahende Dämmerung veranlassten uns aber, einen Platz zum Zelten zu suchen. Leider hatten wir diesmal bei einer Pemex-Tankstelle an der Strassenkreuzung keinen Erfolg, denn um 21 Uhr wurde diese geschlossen und einen Nachtwächter gab es dort nicht. Wir fragten jemanden bei einem kleinen Haus im Rohbau - fast alle Häuser sind zumindest aus steuerlichen Gründen an einer Seite nicht fertig - ob sie eine Gelegenheit für uns hätten, unser Zelt für eine Nacht aufzubauen. Ein kurzes "Si" und schon schoben wir unsere Räder zwischen zwei Holzpflöcken durch, aufs eingezäunte Grundstück. Im ersten Moment sahen wir allerdings keine Fläche für unsere kleine Hütte. Der Familienvater führte Ruth ins Hausinnere, eine Haustür hatte es noch nicht, die Öffnungen für die Fenster waren mit Brettern verschlossen. Als Ruth zu mir zurückkehrte, drehten sich ihre Augen. Nein, sie wollte nicht in Ohnmacht fallen, sie hatte nur gerade eine "liebevoll eingerichtete" Wohnung gesehen, ein einziger grosser Raum, in welchem auf Schotterboden drei Betten verstreut standen, mit einer Art Raumteiler voneinander getrennt. Kocheinrichtung und WC waren nicht auszumachen. Draussen konnten wir auch keine nützliche Infrastruktur erkennen. Jedenfalls hatte es einen Schlauch mit Wasserhahn, auf dem Erdboden stand ein Steinbecken mit Rillen fürs Wäschewaschen. Dort wurden dann in der Dämmerung von einer jungen Frau ein paar Wäschestücke bearbeitet. Das Waschwasser entliess sie wie allgemein üblich in die freie Natur. Das Wasser aus dem Schlauch diente auch für unsere Küche und Körperhygiene. Unser Zelt hatten wir zwischen der Hauswand und einem Maschendrahtzaun errichtet. Die staubige Stellfläche hatten wir vorher von allerlei Abfall, Bretter und jede Menge Glassplitter befreien müssen. Einige Bretter dienten uns als Sitzgelegenheit und Tischchen. Die Nacht wurde dann eine der lautesten unserer bisherigen Tour, denn in der Dunkelheit brummten Fernfahrer in nur ca. 15 Meter Abstand an unserem Zelt vorbei. Die Ohrenstöpsel fürs Fliegen dienten nur schwach als Schalldämpfung.

Am nächsten Morgen sahen wir nach langer Zeit wieder einmal Nebel. Es war sehr frisch, und ein paar Schwaden zogen übers Feld. Wir hatten das Zelt auf der Westseite des Hauses aufgestellt, deswegen packten wir schnell unsere Sachen und fuhren den einen Kilometer bis zur Pemex-Tankstelle, gerade richtig für die Morgentoilette und ein sonniges Plätzchen fürs Früstück. Das Tagesziel war Angangeo, weltberühmt für die Millionen von Mariposa-Schmetterlingen, welche hier überwintern, bevor sie im März ihren langen Weg nach Kanada antreten. Jawohl, richtig gelesen. Auf 3000 Meter Höhe färben sie die Wälder orange. Ein unvergessliches Naturschauspiel ist es, wenn die Schwärme umherfliegen. Es tönt, als wenn im Herbst bei Wind die Blätter rascheln. Um dieses zu erleben, wanderten wir einige Kilometer durch den Wald in teilweise knöcheltiefem Staub. Wir wollten uns nicht auf den kleinen, schlecht behandelten Pferden zu den Schauplätzen führen lassen. Sicher verdienen die Leute dort etwas am Tourismus, Tierquälerei unterstützen wir aber nicht. Wenigstens hatten wir auf dem Rückweg beim Parkeingang einige Pesos für übertäuerte Refrescas (süsse Erfrischungsgetränke) liegen gelassen. Der Parkeingang war von Angangeo über eine 10 km lange, extrem steile Strasse zu erreichen. Diese war auch Teil unserer nächsten Etappe. Allerdings wollten wir uns am frühen Morgen solche Strapazen nicht zumuten, 12 Prozent Steigung im Durchnitt. Also beschlossen wir, den Bus für die 10 km zu nehmen. Für keine 2 Franken (2 Personen inkl. 2 Räder mit gesamtem Gepäck) überbrückten wir im Nu die lange Rampe zur Passhöhe im alten klapprigen Bus. Nun, auf über 3000 Meter über Meer, montierten wir das Gepäck und rollten gemütlich in frischer Bergluft durch Nadelwälder und Bergbauernsiedlungen. Durch die rosarote Brille sah alles fast aus wie im mitteleuropäischen Gebirge, nur war es mehr als zweimal so hoch, und die Bauern sind mit Sicherheit um ein X-faches ärmer. Langsam verliessen wir abwärts die frische Bergregion, die Wälder wichen mehr und mehr dem trockenen Weideland, und die Strecke wurde zunächst flacher. Während unserer Mittagspause an einem Stausee beobachteten wir, wie an vielen Uferstellen die Frauen Wäsche wuschen, nebendran Männer fischten und nahe unseres Picknick-Platzes eine Wasserleitung direkt vom See zu einem Baum, von dort ca. 5 m über der Strasse und weiter zu einer Hütte führte. Hinter dieser erschien plötzlich eine Frau mit 2 kleinen Kindern und einem Esel, der Plastikkörbe mit schmutziger Wäsche tragen musste. Ihr Weg führte ein paar Meter neben uns vorbei, hinunter zum Seeufer. Dann hielt der rote LKW eines grossen Getränkeherstellers, und ich fragte den Fahrer nach dem Weg zu unserem Tagesziel Valle de Bravo, denn es lagen ein paar Abzweigungen vor uns und für uns nicht einfach auszumachen, wo es lang ging. Es wurde wieder hügeliger und wir spürten die Anstrengung von der Fahrt über Mil Cumbres und die ungewohnte Bewegung des Wanderns durch die staubigen Wälder zu den Schmetterlingen. Dann aber konnten wir zum Schluss unerwartet eine fast 800 Höhenmeter lange Abfahrt geniessen, hinab ins Tal nach Valle de Bravo, ein quirliger Touristenort an einem Stausee. Die Strasse war super geteert, so konnten wir es endlich einmal laufen lassen. Aber man darf sich nie zu sicher fühlen, denn einmal tauchte kurz seitlich vor mir ein ca. 50 cm grosses Loch auf. Bei meinem Tempo hätte ich wohl kaum ausweichen können, wäre ich ein paar Zentimeter weiter links gefahren. Ich schrie schnell Ruth zu und zeigte mit der Hand zum Boden. Das ging nochmal gut. In Valle de Bravo schüttelten wir uns im Schritttempo bis zum Plaza durch, die Pflastersteine waren im ganzen Ort verbaut. Die vielen restaurierten Häuser, die Anzahl Geschäfte mit teuren Einrichtungsgegenständen sowie jede Menge Galerien verrieten die Nähe zu México City, zwei Stunden mit dem Auto. Eigentlich wollten wir wieder zelten, aber der einzige Campground in der Gegend war 15 km entfernt, und wir zu müde, um noch weiterzuradeln. Beim Suchen einer Bleibe im Zentrum sprach uns ein Einheimischer an, zeigte uns Fotos von ein paar Privatunterkünften, welche uns attraktiv erschienen, auch vom Preis her. Wir entschlossen uns, einmal mitzugehen. Zwischen Trottoir/Bürgersteig und uns in einer Einbahnstrasse entgegenkommenden Fahrzeuge schoben wir unsere Packesel 500 m bis zu einer äusserst steilen Seitengasse, die wir schliesslich auch noch hoch mussten bis zur Unterkunft. Ich fuhr im kleinsten Gang und höchstmöglicher Trittfrequenz, um ja nicht absteigen zu müssen. Ruth schob ihr Rad mit Hilfe des Zimmervermittlers die steile Pflastersteinrampe hinauf. Alle waren wir nach 100 m ausser Atem. Das Zimmer war recht simpel, der Preis aber nicht. Dafür hatten wir von der Terrasse aus eine Supersicht über die Altstadtdächer hinüber zum See und die grünen Berge im Hintergrund. Nach dem Shopping fürs Abendessen und Frühstück genossen wir den Abend auf der Terrasse bei milden Temperaturen. Der Ausblick von der Terrasse erinnerte uns an Stimmungen im Tessin in der Schweiz.

Was ich schon befürchtete, hatte sich bewahrheitet. Einer langen Abfahrt wird wohl ein Aufstieg folgen. Gleich am nächsten Morgen mussten wir 400 m hinaufkurbeln, was aber vorwiegend im Schatten problemlos ging. Auf der Höhe angekommen, zweigten wir auf eine ruhigere Strecke ab, um nach kurzer Zeit eine lange Abfahrt mit einzelnen steilen Abschnitten runterzurollen. Dabei wurde es immer heisser und ich vermutete wieder einige Gegensteigungen. Auf der Strassenkarte war eine kleine Strecke eingezeichnet, die ich als Abkürzung wählte. Diese entpuppte sich als Bergstrecke mit 1200 Höhenmetern bis auf 2800 m hinauf und 30 km Naturstrasse im obersten Abschnitt, davon 10 km auf sehr holpriger Strecke, 2 km mussten wir die Räder schieben. Dazu kam im unteren Teil die enorme Hitze. Das war dann auch unser Tag mit den meisten Höhenmetern auf dieser Reise. Die Abfahrt in den Übernachtungsort Texcaltitlan auf 2300 m war angenehm frisch. Schnurstracks steuerten wir auf die erste Panaderia zu und gönnten uns ein paar süsse Teile. Zu unserem Glück empfahl uns jemand auf dem Plaza ein gutes Motel am Ortsrand. Somit mussten wir nicht lange suchen, und es war auch höchste Zeit, die Dämmerung hatte längst eingesetzt. Nach der Rückkehr vom Abendessen im nahegelegenen Restaurant zum Motel war das Eingangstor verschlossen. Niemand war zu sehen, es hatte keine Glocke, was nun. Da standen wir mit kurzen Ärmeln und es fing bei frischen Temperaturen an zu winden. Aus Sicherheitsgründen liessen wir das Licht in unserem Zimmer an, um Anwesenheit vorzutäuschen. Wir waren die einzigen Gäste und deswegen hatte der Chef wohl gedacht, er könne das Haupttor schliessen. Aber wie es der Zufall wollte, kam die Familie des Motelbesitzers vom Einkaufen zurück und sah, dass wir vor dem Tor standen. Die Tochter informierte den Chef umgehend und dieser eilte herbei, um das Tor aufzuschliessen und verabschiedete sich dann wieder. Als wir in unserem Zimmer angelangt waren, war kein Licht mehr zu sehen. Oh nein, wir hatten überhaupt keinen Strom im Zimmer. Das fehlte uns gerade noch. So suchten wir mit unserer Stirnlampe den Schalter. An der Aussenwand des Gebäudes fanden wir endlich den Elektroschalter für alle Teile des Motels und konnten das Licht in unserem Zimmer wieder einschalten.

Von Texcaltitlan wollten wir weiter ostwärts fahren, um nach ca. 3 Tagen bei Izucar de Matamoros auf die Hauptstrecke von México City nach Oaxaca zu gelangen. Es gibt dort leider keine Nebenstrecke. Von dort planten wir erst mit dem Bus auf der angeblich stark befahrenen Strasse ohne Seitenstreifen bis Oaxaca weiterzufahren, um uns nicht unnötigen Risiken auszusetzen. Ganz leicht war es nicht eine optimale Route zu finden. Unser neues Kartenmaterial erwies sich für unsere Bedürfnisse als nicht genau genug. Öfters mussten wir Leute vor Ort fragen, um den richtigen Weg zu nehmen. Aber es ist oft so, dass sie einem zwar eine Richtung angeben, diese Angaben aber meistens nicht stimmen, denn niemand will sich die Blösse geben, etwas nicht zu wissen. Darum passierte es auch schon, dass wir ungewollt ein paar Zusatzkilometer machen mussten. Das sind eh immer die härtesten, mental gesehen. Waren wir in den letzten Tagen noch in höheren Regionen pedalt, kamen wir nun mehr durch niedriger gelegenes Farmland mit Zuckerrohrfeldern und Mais. Dementsprechend fuhren nun viele überbeladene Laster mit Zuckerrohr an uns vorbei, schwarze Dieselrusswolken nebelten uns ein. Da hiess es, immer frühzeitig tief Luft zu holen, um nicht im falschen Moment unsere Lungen mit ungewollten Partikeln zu beglücken. Es war jedenfalls am Abend immer eine schwarze Emulsion auf der Haut: Sonnencreme vermischt mit Schweiss, Strassendreck und Dieselruss. Zu unserem Erstaunen erwies sich die Hauptstrecke von México City nach Oaxaca als verkehrsärmer als wir es uns vorstellten. Vermutlich wird vom Fernverkehr die Autostrasse über Puebla benutzt, denn die alte Hauptroute ist sehr kurvenreich und hügelig. Nach 2 Tagen auf dieser Strecke zwischen Kakteen, Dornengestrüpp und trockenen Feldern, beschlossen wir direkt auf der Toll-Road bis Oaxaca zu fahren, was für Radfahrer offiziell verboten ist. Als wir bei der Einfahrt hielten, wurden wir ohne irgendwelche Fragen und Kommentare durchgewunken und schon rollten wir ca. 70 km auf der gebührenpflichtigen Autobahn mit breitem Seitenstreifen. Alle paar Minuten donnerte ein Fahrzeug an uns vorbei. Manchmal war kein einziges weit und breit auf beiden Seiten zu sehen. Wer sich jetzt eine schöne gerade Strecke vorstellt irrt aber. Zwar sparten wir einige Kilometer ein, nicht aber Höhenmeter. Ein LKW-Fahrer, der uns an einer Bergstrecke kriechend überholte, konnte bei der nächsten langen und geraden Abfahrt seinen Augen wohl nicht trauen, als wir an ihm vorbeirauschten. Kurze Zeit später wurde es flach und wir fuhren in Oaxaca ein. Zugleich mussten wir uns auf den quirligen Verkehr konzentrieren. Wie es bis jetzt immer so war, Vorstellungen trafen selten mit der Realität überein. Oaxaca ist viel grösser, als wir es uns gedacht hatten. Das wirkte sich natürlich auf die Suche nach einer Unterkunft aus. In Oaxaca hat es fast nur Einbahnstrassen, deswegen fährt man nie auf kürzesten Wegen zu seinem Ziel. Nach ein paar Hotel- und Posada-Checks kühlten wir uns mit einem grossen Eis ab. Wir sassen an einer Strassenecke und schleckten, als 2 Männer uns ansprachen, das übliche Woher und Wohin, ob wir eine Unterkunft suchten. Sie verwiesen auf ein einfaches und gutes Hostel gleich um die Ecke. Einer der Männer war der Besitzer.... Wir schauten ins Hostel hinein und entschieden uns, einige Tage zu bleiben. Schön, wenn´s immer so einfach ginge.